Kontingenzkunst

Begrifflichkeit, Intention, Ausblick – eine Zusammenfassung 

Der Begriff der Kontingenz in Bezug auf eine Vielzahl von Kunstwerken und deren prinzipiell unterschiedliche Betrachtungsweise von Mensch zu Mensch, ist durch mich entlehnt aus der Philosophie: „Ein Kunstwerk ist wie vieles Bestehende, nicht grundsätzlich und unbedingt so notwendig geschaffen, wie es uns der Künstler präsentiert’“ und entlehnt der Soziologie, dass aufgrund der Offenheit von Lebenserfahrungen und Sichtweisen, nichts so sein muss, wie es ist. Das gilt auch dafür, was uns als Kunstwerk präsentiert wird. Alles kann bzw. könnte auch in seiner Gestaltung davon abweichen, ja sogar ganz anders sein. So kann ein Bild (siehe G. Baselitz) z. B. auch auf dem Kopf stehend betrachtet werden und dennoch Sinn machen.

Die grundsätzliche Intention, die Kunstform der Kontingenzkunst durch speziell dafür geschaffene Trägerrahmen und Konstruktionen zu entwickeln, auf denen das eigentliche Werk platziert und von seinem späteren Erwerber in vielfacher Weise nach seinem eigenen ästhetischen Vorstellungen verändert werden kann, beruht auf zwei Absichten:

Zum einen bricht diese Art von Kunstwerken mit der tradierten Auffassung, wie ein Kunstwerk generell zu behandeln und „ehrfurchtsvoll“ zu betrachten ist. Meine Kontingenzarbeiten sollen ausdrücklich auf Wunsch veränderbar sein, ohne dass ihr Urheber dadurch entwertet oder gar unsichtbar wird. Signaturen und Kennzeichnungen sichern seine Urheberschaft nachhaltig.

Die Kontingenzkunst ist ein Gegenangebot und ein Stück weit auch die Machtentwertung der von mir so genannten „Kunstdompteure“ des weit überwiegenden Teils der Galeristen- und „Kunstexpertenzunft." Ihre gesellschaftliche Position gegenüber Kunstinteressenten sehe ich nach intensivem soziologischen Studium der Mechanismen und Bedingungen, unter denen das Kunstsystem kommunikativ und selbstreferenziell bislang (noch) funktioniert, als weit überhöht und überschätzt an. Die Zeit ist meines Erachtens reif, mutig auch andere Wege neben den hart verkrusteten Strukturen des Mainstream im Kunstbusiness zu gehen.

Mein Angebot als Gegenentwurf bedeutet, die ansonsten artig zum Beklatschen der Werke Dritter erzogenen Betrachter selbst in den Mittelpunkt zu stellen, indem sie selbst befähigt werden, durch den Erwerb eines Kontingenzkunstwerks zum Künstler zu werden. Hierzu können diese Werke in ihrem Farb- und Formenspiel den Wünschen der Erwerber der Arbeiten angepasst werden. Sie sind flexibel und variabel, einige sogar teilbar. Ich als Konzipierender und Urheber verkaufe lediglich ein Angebot, eine erste Variante, an die Käufer. Ihnen bleibt es dann überlassen, ob sie sich damit bereits zufrieden geben, oder nach ihrem Gusto weitere Veränderungen an dem Werk vornehmen, so wie es ihnen beliebt.

Ausblick

Wie ich bereits festgestellt habe, finden die Rezipienten meiner Ausstellungen und Vorträge meine Werke und Anschauungen zur Veränderungskunst, bislang weitgehend interessant bis höchst spektakulär. Die Vorstellung jedoch, selbst Hand an erworbene und ihnen somit überlassene Kunstwerke zu legen, trifft auf eine von Kindheit an vorhandene Konditionierung, wie grundsätzlich mit Kunstwerken umzugehen sei. Es ist bislang noch eine Minderheit, die zu individuellen Umgestaltungen neigt, einige darunter machen dies jedoch durchaus zum gemeinsamen Familien-Event und entlocken den Einzelteilen des Werkes ganz neue Varianten und Formgebungen, die selbst mich verblüffen. Getreu dem Motto „sieh einmal an, dass kann auch daraus werden!“

Die Zuversicht darüber, dass jenes Angebot der Kontingenzkunstwerke auf weitere Resonanz und bei entsprechender Verbreitung, auf Interesse bei Kunstinteressenten stößt und der Wunsch, derartige, variable Werke gerne besitzen zu wollen, möge mir zeigen können, dass Bedarf an dieser Kunst vorhanden ist... so dachte ich anfangs.
Leider ist der Wunsch, ein Kunstwerk nach den Kriterien der "Wohnzimmertauglichkeit" zu erwerben und als Neubesitzer damit zu verfahren wie "passt zur Einrichtung... verändern ... ach nein ... nachher mache ich noch etwas kaputt ... passt schon so, wie ich es vom Künstler gekauft habe", vorherrschend. So muten meine Ideen eines Veränderungsangebots von Kunstwerken an die Käufer, eher unrealistisch an. Dies ist nach nunmehr zehn Jahren Kunst in Kontingenz, von mir nüchtern zu bilanzieren. Es könnte jedoch sein, dass im Zuge der weiter fortschreitenden Individualisierung der Gesellschaften und damit auch der menschlichen Persönlichkeit, das Interesse an einer individuellen Umgestaltung von erworbener Kunst, entwicklungsfähig ist.        


Basistext Kontingenzkunst:  

"Kontingenzkunst ist Veränderungskunst"

Vorbemerkungen zu Kontingenz und Kontingenzkunst

Dies ist die Kurzfassung eines soziologisch-kunstwissenschaftlich ausgerichteten Essays zur Kontingenzkunst, einer neuen Art von Kunstwerken, möglicherweise bald auch einer neuen Kunstrichtung. Eine speziell für die Presse, Kunstkritik und Studenten der Kunstgeschichte oder Bildende Kunst überarbeitete Version - zunächst in deutscher Sprache - steht gegenwärtig noch nicht als Download zur Verfügung. Ich arbeite derzeit an einer umfangreicheren Publikation in Buchform.
Um Missverständnisse von vornherein auszuschließen: In meiner Argumentation orientiere ich mich nicht umfassend an den Ansichten und der Theorie Niklas Luhmanns zur Funktion der Kunst in der Gesellschaft, wie von ihm etwa andernorts in „Die Kunst der Gesellschaft" geäußert. Diese Theorie wäre m. E. einer differenzierteren, kritischen Betrachtung zu unterziehen. Dies soll jedoch nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen zur Kontingenzkunst sein. Ich nehme im Folgenden fast ausschließlich Bezug auf den Begriff der Kontingenz in sozialen Systemen und explizit in Bezug auf das Kunstsystem im Hinblick auf seine Bedeutung für den Menschen in einem sozialen System, wie von Luhmann in seiner Theorie Sozialer Systeme ausgeführt, zu der auch das Kunstsystem gehört.
 

1. Kontingenz

Kontingenz (lateinisch: contingere; sich ereignen; spätlateinisch: Möglichkeit). Im Nachfolgenden die Behandlung des Begriffs mit zeitdiagnostischem Potenzial aus soziologischer Sicht.
Kontingenz ist ein in der Soziologie, vor allem der Systemtheorie Niklas Luhmanns,  verwendeter Begriff, um die prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen zu benennen. „Der Begriff wird gewonnen durch Ausschließung von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas, was weder notwenig noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein, wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abweichungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist".  (Luhmann: Soziale Systeme 1987, S. 152). Kontingenz beruht demnach auf Unterscheidungen und Konstruktionen, welche immer auch anders gemacht werden können. Der Begriff bezeichnet insofern eine Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit.

Das Funktionssystem der Kunst verweist auf ganz spezifische Weise auf Kontingenz. Kunst führt Kontingenz auf paradigmatische Weise vor: "Der Kunstschaffende wie der Kunstbetrachter haben keine andere Wahl, als (in Formen festgelegte Beobachtungen) zu beobachten.(...) Beobachtende stellen dabei fest, dass es immer mehrere Möglichkeiten des Anschlusses einer Form an bereits bestehende Formen gibt. Das fertige Kunstwerk ist dann ein Gefüge von Formen, eine Komposition, die in vielerlei Hinsicht ganz anders hätte ausfallen können" (Hermsen in: Koller 2007, S. 140).

Im Alltag der Moderne prägen den Menschen vielfältige Erfahrungen, dass all die von ihm wahrgenommenen Strukturen und Ordnungsformationen kontingent sind. Mit anderen Worten: Alles, was in der Welt vorhanden ist oder gemacht wird, ist auch prinzipiell anders möglich und denkbar. Wir leben als Menschen in einer Welt vielfacher Wirklichkeiten.

"Leben in einer „Kontingenzgesellschaft" (Greven 2000, S. 273) bedeutet demnach für das Individuum, sich in einer Form von Gesellschaft zu bewegen, in der eingelebte und tradierte Formen der Institutionalisierung und Kollektivität zunehmend durch Ambivalenz und Uneindeutigkeit bestimmt sind. Orientierungssicherheit wird bei ausgeprägter Individualisierung zunehmend problematisch. Durch die Kontingenz der modernen Gesellschaft ist die alltägliche Lebenswelt des Menschen zersplittert in eine Vielzahl von permanenten Entscheidungen, die einhergehen mir einer enormen Expansion der Anzahl vorhandener Alternativen, zu handeln.

Kontingenz beschränkt sich nicht nur auf die Ebene des Individuums und seinem Entscheidungshorizont. Sie ist grundsätzlich entgrenzt, auch auf der Ebene der Politik und der Ökonomie sichtbar und prägt die Rahmenbedingungen und das unmittelbare Wirkungsgefüge der Wissenschaft und der Technologie. Das „auch anders möglich sein" war für das Kunstsystem bereits prägend, lange bevor es im Wissenschaftssystem zulässig war. Luhmann weist der Kontingenz im Kunstsystem hier sogar eine Vorreiterrolle zu (Luhmann 1990, S. 90).

Die Multioptionsgesellschaft moderner Prägung kultiviert den Möglichkeitssinn (s. Robert Musil „der Mann ohne Eigenschaften") im Hinblick auf Entscheidungen, Handeln und Unterlassen. Es erscheint uns immer mehr so, dass unsere globale Gesellschaft im Vergleich zu früheren Phasen der Moderne trotz größerer Informationsvernetzung immer komplexer, zersplitterter, feinkörniger, heterogener, orientierungsloser und komplizierter geworden ist.

2. Kontingenzkunst

In einer durch Kontingenzerfahrungen geprägten Gesellschaft - so meine erste These - ist das Entstehen einer entsprechenden Kunstform, die dem Möglichkeitssinn des Menschen und seiner persönlichen Gestaltungsfreiheit auch im Umgang mit (erworbener) Kunst entspricht, als geradezu folgerichtig anzusehen. Die von mir so benannte Kontingenzkunst ermöglicht es Erwerbern meiner Werke, sie nach ihrem Gusto (in ihrer Wohnung, ihren Büros, ebenso im öffentlichen Raum) zu verändern und ihnen somit neue Ansichten und Eindrücke zu entlocken. Sie bekommen damit die Macht, das Kunstobjekt nach ihrem Willen zu gestalten und somit bestimmten sie selbst mit ihrem Willen die Bedingungen zur Erfüllung ihres privaten Glücks in der Übertragung von Gefühlen auf ein Ding, das Kunstobjekt (1).

Eine basale künstlerische Erfindung, die dies exemplarisch ermöglicht und veranschaulicht, sind Kunstwerke, die zusammen gesetzt sind aus so genannten Kontingenzfeldern, wobei es a priori keine Restriktionen, bezogen auf die Größe dieser Felder bzw. Tafeln und die verwendeten Materialien gibt. Die Kontingenzfelder, oftmals in einem prinzipiell modular erweiterbaren Rahmen platziert, sind eine wichtige, jedoch inzwischen lediglich als eine Ausdrucksform der Kontingenzkunst anzusehen, wie die technischen Weiterentwicklungen und Experimente von Materialien und Formen nach dem Prinzip des Möglichkeitssinnes seit Erstellung der Basisarbeiten, gezeigt haben.

Die Komplexität der künstlerischen Gestaltungsoptionen durch den Erwerber dieser Kunstwerke kann bei Bedarf durch modulare Erweiterung nach eigenen Auftrag zudem großformatige Dimensionen erreichen, je mehr Module mit einer entsprechenden Anzahl von Feldern bzw. Tafeln miteinander verbaut werden, sofern dem - bezogen auf das jeweilige Einzelprojekt - keine statischen, materialspezifischen oder aber bauphysikalische Grenzen gesetzt sind.
Das Kunstwerk ist im Sinne der Kontingenzerfahrungen vom Käufer selbst in unterschiedlichem Ausmaß in seiner Gestalt und Wirkung subjektiv veränderbar, jedoch nicht derart, dass es, ausgehend von der vom Künstler beabsichtigen Veränderbarkeit, über diese hinaus Unkenntlichkeit, bezogen auf die Zuordnung zu seinem künstlerischen Urheber, erreicht.

Veränderbarkeit in einem vom Künstler alleine aufgrund der Grundkonzeption des jeweiligen Kontingenzkunstwerkes vorgegebenen Ausmaß durch den Erwerber bedeutet keineswegs, diese künstlerische Arbeit der Beliebigkeit, ja dem Chaos zu überlassen. Es besteht vielmehr auch im Hinblick auf die Nutzung der Option von Veränderbarkeit immer ein sichtbarer, geordneter Umgang mit dem Kunstwerk. Dies heißt, jede Umplatzierung und Veränderung von Teilen bzw. der Grundform des Werkes, findet unter von vornherein bei der Konstruktion des Werkes von Seiten des Künstlers bedachten und hierbei bereits materialisierten Anschlussmöglichkeiten statt (2). Innerhalb gewisser Grenzen, die bedingt sind durch eine endliche Zahl von zur Verfügung stehenden und verbaubaren Kontingenzfeldern, sonstigen Einzelteilen und einer bestimmten Rahmenkonfiguration, die alle Teile der Gesamtheit trägt, sind Freiheiten bei der Montage nur soweit möglich, als sich passende Anschlussmöglichkeiten in dem Set vorhandener, zum Kontingenzkunstwerk gehörender Teile, befinden. Deren endliche Zahl an Kombinationsmöglichkeiten ist dem Künstler selbst bei dem Erstellen des Werkes oft gar nicht bekannt. Er entscheidet sich im Vorfeld einer ersten Präsentation des jeweiligen Kunstwerks für eine Konfiguration, die sich z. B. in Einklang mit seinem persönlichen ästhetischen Empfinden befindet und denkt allenfalls einige Anschlussmöglichkeiten bzw. ein anders sein hinzu. Dem Erwerber des Kontingenzkunstwerks ist es möglich, eine Umkonfiguration für beendet zu erklären, auch wenn er am Ende noch einige wenige Einzelteile übrig behalten hat. Diese kann er für einen späteren Anlass der erneuten Umgestaltung aufbewahren und dann bei Bedarf einfügen (3). Der spätere Erwerber dieses Werkes wird in seinem kreativen Veränderungsprozess alsbald feststellen, was bei der Kombination bestimmter Muster und Konfigurationen von Feldern möglich, aber wiederum auch unmöglich ist. Entstehen bei der Kombination von Einzelfeldern und Einzelteilen Lücken im Werk, dann ist sowohl eine Anschlussunterbrechung Grund für die Wahl eines anderen Formenanschlusses als auch bei manchen Gestaltungsvarianten eine subjektiv ästhetische Grenzziehung möglich, die den Umgang mit Kontingenz auch in der Kontingenzkunst einer Selbstbeschränkung von Möglichkeiten unterwirft.

3. Macht Kontingenzkunst jeden Menschen zu einem Künstler?

Kontingenzkunst, explizit das Angebot der Kontingenzfelder, entspricht meines Erachtens, so meine zweite These, der Suche des Menschen in der Gegenwartsgesellschaft nach ständig Neuem, nach neuen Reizen und Eindrücken und trifft damit in der Moderne auf die institutionell geforderte, im Wesentlichen auch bereits individuell verinnerlichte, enorme Flexibilität und Veränderungsbereitschaft des Individuums. Flexibilität kommt damit als Anforderung an die menschliche Existenz in einer globalisierten Welt immer mehr eine zentrale Bedeutung zu warum nicht auch bezogen auf die Anforderungen an die Flexibilität in der Kunst und den Umgang mit Kunst?

Ein Kontingenzkunstwerk lebt wie auch nicht veränderbare Werke in seinem Rahmen nach den Kriterien von gutem Aussehen, Harmonie oder Kontrast, so wie dessen Besitzer es subjektiv als ästhetisch erachtet. Mit einem wichtigen Unterschied zu traditionellem Kunstschaffen fixer Werke: Der Kontingenzkünstler zwingt ihm durch sein Schaffen nicht ein für alle mal eine feste Sichtweise auf. Er schreibt z. B. nicht vor, wie herum das Werk nur hängen darf. Die Option auf mögliche Abwandlungen trifft hier, wie oben erwähnt, auf den im Menschen tief verwurzelten Möglichkeitssinn, dass ein Kunstwerk grundsätzlich auch anders sein kann, ja sein darf, als der Künstler vorgibt.

Während der Beobachter von Kontingenz, etwa bei einer Kunstausstellung, sich damit begnügen muss, Anschlussmöglichkeiten des Werkes lediglich in seinem Kopf zu erdenken, so kann er beim Erwerb der Kontingenzkunst diese Anschlussmöglichkeiten selbst mit wenigen Handgriffen und ohne Werkzeuge in ihrer Machbarkeit mit dem zuvor nur als mögliche Optionen Gedachten in Einklang bringen und nun in einem Wechselspiel von „Trial and Error" Unmöglichkeiten und Möglichkeiten selbst erfahren. Und schließlich können Käufer meiner Kontingenzkunst diese Überprüfung im Laufe ihres Zusammenlebens mit dem Kontingenzkunstwerk von Zeit zu Zeit erneut vornehmen, indem sie eine Neukonfiguration ihres Werkes vornehmen. Selbst der Künstler als Macher des Kunstwerks kennt, wie bereits angedeutet, hierbei die Endlichkeit der Kombinationsmöglichkeiten vieler seiner Arbeiten oftmals nicht. Grund hierfür ist die nicht zu kalkulierende Beobachtungs- und Formgebungsgabe des Mitmenschen als Erwerber des Kontingenzkunstwerkes. Anhand dieses einzigartigen, subjektiven Zuganges als Beobachter aller Kunst, die ein Kontingenzkunstwerk mit einschließt, ergeben sich folgerichtig auch seine Motivationen zur Umgestaltung und damit dem Finden von in der Person selbst liegenden Vorstellungen von eigenen Anschlussmöglichkeiten von Farben und Formen aneinander.

Kontingenzkunst ist meiner Ansicht nach primär eine Form von Gegenwartskunst im 21. Jahrhundert menschlicher Zivilisation. Sie ist zwar etwas grundsätzlich Neues und in gewisser Hinsicht auch Revolutionäres im Umgang mit erworbener Kunst, doch zugleich etwas zeitgemäß nahe liegendes. Vielleicht bereits längst überfällig, erfunden und verbreitet zu werden. Mein soziologisch geprägter beruflicher Hintergrund in Verbindung mit meinem Interesse für Gegenwartskunst und dem in mir tief verwurzelten Bedürfnis zu eigenem Kunstschaffen, haben mir schließlich dazu verholfen, diese Kunstwerke zu realisieren.
Kontingenzkunst ist nach meinen noch jungen Erfahrungen mit ihrem Erstellen (4) und besonders anhand der Reaktionen von Menschen, denen ich zunächst aus Studiengründen einige meiner Werke zur Veränderung überließ, in der Umsetzung facettenreich, überraschend, inspirierend. Sie soll mit ihrem Potenzial zur individuellen Abwandlungsfähigkeit durch die ihr immanenten Umgestaltungsoptionen im Wohn- oder Arbeitsbereich eine Angebotserweiterung, eine Bereicherung und damit auch eine weitere Alternative zur bisher existierenden Kunst darstellen. Manche dieser Arbeiten sind teilbar und somit auf mehrere Räume und/oder auch an verschiedenen Stellen in ein und derselben Räumlichkeit in ihren Teilen platzierbar. Andere durch den Einbau von Gelenken oder in der Art Ihrer Konstruktion liegend, stark wandelbar und formbar.

Kontingenzkunst stellt mit dem Abschied vom künstlerischen Determinismus „das Werk nur so zu gebrauchen und aufzuhängen, wie es der Künstler beabsichtigt hat, einen radikalen Bruch dar. Ich freue mich, wenn meine Kontingenzkunst durch die Experimentierfreude der Erwerber für diese erst ihre eigenständige Sichtweise und Interpretation durch Veränderung an dem Platz erhält, an dem sie zur Geltung kommen soll und er selbst dabei Formen, Farben und Anschlussmöglichkeiten nach seinem Gusto variieren kann. Durch die von mir geschaffenen Projekte und Werke der Kontingenzkunst werden deren Erwerber in die Lage versetzt, diese ihrer sich wandelnden Gemütslage und dem individuellen Veränderungsbedürfnis mit dem Fortschreiten der Zeit ihres Zusammenlebens mit dem Kunstwerk anzupassen. Käufer meiner Kontingenzkunst erfahren sich so in einer neuen Rolle, als Veränderungskünstler. Kontingenz in der Kunst wird so über praktizierte Anschlussmöglichkeiten im Rahmen bestimmter Ordnungszwänge für die Käufer meiner Kunstwerke sichtbar und somit auch praktisch erfahrbar. Damit spiegelt sich im Umgang mit der Kontingenzkunst Grundsätzliches, das über das Kunstsystem hinaus auch für andere soziale Systeme Gültigkeit hat. „Die Funktion der Kunst ist nicht nur, Kontingenz aufzuzeigen, sondern darüber hinausgehend auch und vor allem einen geordneten Umgang mit Kunst sichtbar zu machen" (Luhmann zit. In Hermsen 2007, S. 147.
Der Mensch, sei es in beruflichen Bezügen oder als Träger anderer Rollen, ist auch als Teilnehmer am Kunstsystem in andere Teilsysteme der Gesellschaft eingebunden. Spezifische Unabhängigkeit in einem Funktionssystem trifft hierbei auf größere Abhängigkeit von einem anderen Funktionssystem. Er hat in seiner Persönlichkeit existentielle Freiheiten, kann diese, wie aufgezeigt, im Angebot der Kontingenzkunst, über Optionen zur individuellen Veränderbarkeit zu seiner höchstpersönlichen Kunst ausleben. Er bleibt darüber hinaus jedoch immer - zwar atomisiert - aber dennoch Teilnehmer der Gesellschaft als Ganzem und somit auch bestimmten Ordnungszwängen unterworfen, sich dort einzufügen.

4. Ausblick


Sich dem Begriff der Kontingenz in der Kunst über praktisch veranschaulichende Werke, sicherlich auch aus subjektivem Blickwinkel heraus zu widmen, ist eine herausragende, aber insgesamt gesehen nur e i n e Herausforderung meiner künstlerischen Arbeit als ambitionierter zeitgenössischer Künstler, die allerdings weit mehr als nur ein künstlerisches Experiment oder zeitlich begrenztes Projekt darstellt. Kontingenzkunst stellt nach meiner Überzeugung ein zeitgemäßes Angebot an die ausgeprägte Individualität des Menschen in der Gegenwartsgesellschaft dar. Der über die Schwelle des neuen Jahrtausend getretene Mensch ist selbständiger und zugleich auf sich zurück geworfener, denn je. Er ist alltäglich und vielfältig gefordert, sein Sensorium zu erweitern für die Potenziale und Möglichkeiten, die seine Existenz in der Moderne beinhaltet. Er ist grundsätzlich in der Lage, anders zu sehen und hat - so eine meiner weiteren Grundannahmen - latent oder offensichtlich zeitgemäß auch grundsätzlich erweiterte Erwartungen und Anforderungen an die Funktion von Kunst in seinem Lebensumfeld. Diesen latenten wie offensichtlichen Fähigkeiten möchte ich mit meinen Kontingenzkunstwerken entsprechen können.

Fußnoten:

(1) Dieser Umgang mit Kunst mittels Umgestaltungsoptionen bezogen auf das jeweils erworbene Kontingenzkunstwerk erweitert hierdurch die Motivationen von Sammlern, Kunstwerke zu erwerben, um einen Typus, nämlich wie ich ihn bezeichne, den Typus des „kreativen Veränderers der von ihm erworbenen Kunst bei Bedarf". Zur Motivation und Typologie von Kunstsammlern vgl. z. B. P. Dossi 2007, Kap. 2, S. 52-98.

(2) Als Erfinder der Kontingenzkunst habe ich es mir jedoch zur Aufgabe gemacht, zum Verständnis des Funktionierens dieser Kunst beizutragen, indem ich von jedem meiner Kontingenzkunstwerke mindestens 10 abweichende Varianten aus den zum Kunstwerk gehörenden Grundformen gemacht, diese Ergebnisse dokumentiert und nachfolgend als kleine Filme zu Präsentationszwecken für Kunstinteressierte, Z. B. auf meiner Homepage und auf einer DVD bereit gestellt habe.

(3)  Dies ist ein spannender Vorgang, bei dem sich der Veränderungswillige bezogen auf das Kunstwerk prüfen kann, zu welchem Typus Mensch er sich zugehörig fühlt. Zu dem von mir ad hoc ermittelten „gelassenen Komponisten," dem das in der Hand halten eines letzten Teils nach für ihn geglückter Neukonfiguration unwichtig ist und ihm der Gesamteindruck wichtiger erscheint, als unbedingt das letzte Teil auch noch verbauen zu „müssen. Oder ob er sich eher als „perfektionistischer Monteur" bezeichnen ließe, der bei Zurückbehalten eines Teils das gesamte, von ihm bereits erarbeitete Muster oder Beziehungsgefüge von Feldern zueinander durch vollständige oder teilweise Abnahme erneut „zerstört", weil ihm Handeln nach der Devise „Es sind 48 Teile (z. B.), die dazu gehören sollen, also muss ich auch diese 48 Teile alle unterbringen, sonst ist es nicht vollständig zu nennen. Der Künstler hat es doch auch schließlich geschafft!"

(4) Das erste Kontingenzkunstwerk wurde von mir im Februar 2008 hergestellt. Dem gingen einige Monate an Entwicklungsarbeit voraus.
___________

Literatur:

Dossi, Piroschka: Hype! Kunst und Geld. Dtv, München 2007

Greven, Michael, Th.: Kontingenz und Dezision. Beiträge zur Analyse der politischen Gesellschaft, Opladen 2000.

Hermsen, Thomas: Die Funktion der Kunst. In Koller, Markus: Die Grenzen der Kunst, a. a. O., S. 139-154.

Koller, Markus: Die Grenzen der Kunst - Luhmanns gelehrte Poesie, Wiesbaden 2007.

Koller, Markus: Kap. 4 „Gesellschaftstheorie und Kunst: Kontingenz. In: Ders. 2007, S. 241-254.

Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1987.

Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990.

Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt 1997.

Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, 2 Bde., Reinbek 1999